Gemeinsames Zeugnis für Gott durch die abrahamitischen Religionen?
Gern wird heute, vor allem von christlicher Seite, die Einheit der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam beschworen, weil sie sich alle auf Abraham und seinen Glauben an den einen Gott berufen. Der Rückgriff auf Abraham soll dazu dienen, den kleinsten gemeinsamen Nenner für alle an Gott gläubigen Menschen zu finden. Man will die Unterschiede im Gottesglauben nicht verwischen, aber das Gemeinsame als Basis für das Gespräch und die Zusammenarbeit betonen.
Bei genauem Hinsehen berufen sich jedoch Judentum, Christentum und Islam auf einen Abraham, wie sie ihn jeweils verstehen. Deshalb werden am jeweiligen Abrahamverständnis gerade nicht die Gemeinsamkeiten des Gottesglaubens und der Beziehung des Menschen zu Gott deutlich, sondern vielmehr gerade ihre Unterschiede.
Abraham in jüdischer Sicht
Für das Judentum ist Abraham vor allem der Stammvater Israels und der Juden. „Wir haben Abraham zum Vater“ (Matthäus 3,9, vgl. Johannes 8,33), so rechtfertigen sich die zeitgenössischen Juden gegenüber Johannes dem Täufer und gegenüber Jesus. Die Evangelien sehen das kritisch. Mit dem Hinweis auf ihr Kindschaftsverhältnis zu Abraham, lehnten die Juden seinerzeit sowohl den Bußruf des Täufers als den Jesu ab. Die leibliche Abstammung von Abraham machte sie selbstsicher gegenüber dem Anspruch Gottes auf ihr Leben. Jesus sagte ihnen: „Wenn ihr Abrahams Kinder wärt, so tätet ihr Abrahams Werke“ (Johannes 8,39). Sowohl Johannes als auch Jesus sagten deutlich, dass eine leibliche Abstammung von Abraham nicht ausreicht.
Abraham in neutestamentlicher Sicht
Paulus führte in seinem Brief an die Römer (Kap. 4 und 9) sowie an die Galater (Kap. 3 und 4) aus, dass der wesentliche Zug an Abraham sein Vertrauen in Gottes Zusagen war. Durch dieses Vertrauen lebte er in der rechten Gottesbeziehung. Paulus hat sowohl den Abraham des 1. Buches Mose richtig verstanden als auch im Sinne des Täufers und Jesu gedacht.
Wie für Johannes und Jesus hatte dieses Verständnis Abrahams für Paulus eine besondere Bedeutung in seiner Auseinandersetzung mit den gesetzestreuen Juden seiner Zeit. Für ihn war derjenige Mensch, der Gott bedingungslos vertraut, Kind Abrahams (Galater 3,7). Die leibliche Abstammung war für ihn nicht entscheidend. Paulus machte das daran deutlich, dass Abraham ja viele leibliche Kinder hatte (außer Isaak auch Ismael und die Söhne der Ketura), dass aber nur Isaak der im Vertrauen auf Gott gezeugte Sohn und damit der Träger der Bundesverheißung war.
Paulus folgerte daraus, dass auch Nichtjuden, also Menschen aus den Völkern der Welt (Galater 3,8), Kinder Abrahams werden können, wenn sie Gott vertrauen. „So sollte er ein Vater werden aller, die glauben ...“ (Römer 4,11). Paulus begründete auf diese Weise, dass es nicht nötig sei, das mosaische Gesetz zu halten, um in die richtige Gottesbeziehung zu kommen. Das Gesetz sei wohl gut, aber es könne keine Menschen in das rechte Gottesverhältnis bringen. Nur im Glauben an die durch Jesus Christus gewährte Sündenvergebung könne ein Mensch zum Frieden mit Gott gelangen.
Abraham in koranischer Sicht
Für Muhammad war es wichtig, dass Abraham weder Jude noch Christ war, sondern einfach ein Mensch, der an den einen Gott glaubte. Muhammad hatte begriffen, dass Abraham vor Jesus und vor Mose lebte. Da Abraham ein Verehrer des einen Gottes war, schloss Muhammad daraus, dass er nicht Jude oder Christ werden müsse, um den einen Gott richtig zu verehren (vgl. Sure 2, 131).
Vermutlich stand Muhammad vor seinem Berufungserlebnis durchaus vor der Frage, ob er nicht Jude oder Christ werden solle. Nach seinem Berufungserlebnis wusste er sich zunächst als arabischer Gottgläubiger mit Juden und Christen auf einer Stufe. Als die Juden und Christen seiner Umgebung jedoch seine Verkündigung ablehnten, wurde für Muhammad der Rückgriff auf Abraham zum Anlass, seinen Islam als die wahre Religion Abrahams und sowohl das Judentum als auch das Christentum als degenerierte Formen der einen Religion zu sehen.
Muhammad argumentierte anfangs ähnlich wie Paulus, doch ist der Unterschied nicht zu übersehen. Denn anders als Paulus kannte Muhammad den im 1. Mosebuch geschilderten Abraham nicht. Vielmehr projizierte er seine eigene Vorstellung von einem wahrhaften Gottgläubigen in Abraham hinein. Der Koran verkündigt also einen islamisierten Abraham, der gegen die Vielgötterei kämpfte wie Muhammad selbst. In gleicher Weise hat Muhammad auch Mose und Jesus islamisch umgedeutet.
Mit dem Rückgriff auf Abraham entzog sich Muhammad sowohl dem Anspruch des mosaischen Gesetzes als auch des durch Jesus Christus bewirkten Heils. Mit Hilfe der Abraham-Projektion setzte Muhammad die biblische Heilsgeschichte von Abraham bis Jesus praktisch außer Kraft. Statt Isaak hat Muhammad Ismael zum wahren Erben des Glaubens Abrahams gemacht. Die Identifizierung Ismaels mit dem Stammvater der Araber und damit der Muslime ist weder biblisch noch historisch haltbar.
Gleiche Worte – unterschiedlicher Inhalt
Der islamische Rückgriff auf Abraham ist keine gemeinsame Plattform für den Gottesglauben von Juden, Christen und Muslimen. Er ist vielmehr eine Abkehr von dem in der Bibel bezeugten Gott Israels und des Vaters Jesu Christi. Das koranische und das biblische Zeugnis von Gott lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, sind vielmehr trotz mancher Gemeinsamkeiten im Kern unterschiedlich und gegensätzlich. Der Koran meint zwar den einen Gott, aber letztlich verkündigt er einen anderen Gott als die Bibel.
Das macht das Gespräch zwischen Christen und Muslimen so schwierig. Mit den gleichen Worten meinen Christen etwas anderes als Muslime. Dennoch sollten sich Christen der Mühe des Gesprächs mit Muslimen nicht entziehen und ihren Gesprächspartnern Gott, wie er sich wahrhaft in der biblischen Heilsgeschichte offenbart hat, bezeugen.
Autor dieser Ausgabe: Eberhard Troeger
Stand: Januar 2007